Der verschwundene Fußballplatz
In der kommenden Fußball-Saison wird der Henneberg-Sportplatz in Gernsdorf in frischem Grün erstrahlen, wenn der Kunstrasen-Belag endlich erneuert wird. An der jetzigen Stelle existiert der Sportplatz des Bezirksligisten TSV Weißtal seit 1956, sein „Vorgänger“ gleicht mittlerweile eher einem Mythos.
Rund 150 Meter Luftlinie oberhalb der aktuellen Arena, „ganz versteckt, halb verdeckt, irgendwo tief im Wald“, wie es in einem Songtext von Frank Zander heißt, lag der einstige Fußballplatz von Schwarz-Weiß Gernsdorf. Die Schwarz-Weißen fusionierten im Jahre 1971 mit dem Nachbarverein SV Rudersdorf zum TSV Weißtal. Doch dort, wo einst die Gernsdorfer um Tore, Punkte, Meisterschaft kämpften, finden sich heute nur noch dichter Baumbestand und Gestrüpp. Man muss sich buchstäblich über Stock und Stein durchkämpfen, so manchen Zweig in Gesichtshöhe beiseite biegen, um weiterzukommen. Eine kleine Böschung, auf der damals die zahlreichen Zuschauer standen, und eine immer noch relativ gerade Bodenfläche lassen allenfalls erahnen, dass hier vor gut 60 Jahren erbittert um das runde Leder gerungen wurde.
„Der Platz hatte eine ganz besondere Atmosphäre“, erinnert sich Werner Nogaitzig, Jahrgang 1939, der als junger Mann 1954 zum Fußballspielen aus seinem Heimatort Irmgarteichen nach Gernsdorf kam. „Das Feld war auffällig klein und eng, vom Strafraumeck bis zu den Seitenauslinien waren es nur ganz wenige Meter.“ Erbaut wurde der Sportplatz im Jahre 1920, „von jungen Männern aus dem Ort im Hand- und Spanndienst“, berichtet Nogaitzig. „Die Haubergsgenossenschaft, der das Grundstück auch heute noch gehört, hatte es dem Verein in Erbpacht überlassen.“
Den Kickern des 1921 gegründeten Vereins Schwarz-Weiß Gernsdorf, die sich in den Anfangsjahren stets in der Kreisklasse bewegt hatten, diente das „Kuchenblech“ später in den frühen 50er-Jahren als gefürchtete Heimstätte. Während die Gastmannschaften sich mit den ungewohnten Abmessungen oftmals schwer taten, fühlten sich die Gernsdorfer Fußballer dort buchstäblich wie in ihrem Wohnzimmer. So gelang zu Beginn der 50er-Jahre der Sprung aus der 2. in die 1. Kreisklasse, in der Saison 1955/56 machte Schwarz-Weiß Gernsdorf gar den Aufstieg in die Bezirksklasse perfekt. „Wir haben damals über 100 Tore geschossen, allein Otto Schmitt über 40 und Karl Schneider fast genauso viele. Auch Heinz Wolf war ein starker Vollstrecker. Die anderen waren mehr die Zuspieler, aber auch gute Leute“, erinnert sich Werner Nogaitzig, der damals (vier Jahre lang!) in der Jugend der SchwarzWeißen dem runden Leder nachjagte. „Zu dieser Zeit gab es noch keine A-, B-, C-Jugend und so weiter, sondern nur eine einzige Jugendmannschaft, in der alle 14- bis 18-Jährigen spielten.“
Sein Debüt in der 1. Mannschaft gab er im Jahre 1959 in Banfe. Bis dahin freilich hatten die SchwarzWeißen turbulente und wechselhafte Jahre durchlebt. In der Spielzeit 1955/56 wurden die Gegner reihenweise „aus dem Wald geschossen“, deutliche Heimsiege waren keine Seltenheit. „Gegen den SV Raumland, der vor der Saison durchaus zu den Favoriten auf den Meistertitel gerechnet wurde, gab es einen 9:0-Sieg“, schmunzelt Werner Nogaitzig, der sich auch an das Lokalderby gegen den SV Rudersdorf noch gut erinnern kann: „Das haben wir 5:1 gewonnen, vor sehr vielen Zuschauern. Seinerzeit war der Besuch unserer Heimspiele sonntags für ganze Familien fast schon Pflicht, da standen auch viele Frauen und Kinder am Rand. Wir hatten in Gernsdorf immer einen starken Zuschauerzuspruch. Und wir hüteten unsere Bälle wie einen Schatz, denn damals hatte man nicht 20 Kugeln zur Verfügung wie heute, sondern vielleicht drei – und wenn die neben oder über das Tor flogen, konnte man erst mal die Böschung runterrennen, um sie zu suchen“, weiß Nogaitzig als Zeitzeuge.
Mit dem Meisterstück in der 1. Kreisklasse Nord, das man durch einen 2:0-Erfolg beim SV Berghausen unter Dach und Fach brachte (Nogaitzig: „Da sind wir mit zwei Bussen hingefahren“), war aber das Kapitel „alter Sportplatz“ beendet: „Die Abmessungen des Feldes entsprachen weder in Länge noch Breite den Anforderungen des Fußballverbandes, und so musste ein neuer Platz gebaut werden.“ Das dafür geeignete Gelände fand man etwa 150 Meter unterhalb, damals noch komplett bewaldet.
„Eine Wittgensteiner Baufirma hat das Gelände begradigt, das muss eine Heidenarbeit gewesen sein“, vermutet Werner Nogaitzig, der gerne an die Premieren-Partie auf dem Henneberg zurück denkt: „Zum Auftakt der Saison 1956/57 schlugen wir den BC Eintracht Siegen, der sich später mit dem VfR Siegen zum Siegener SC zusammenschloss und der damals eine bärenstarke Truppe hatte, mit 2:1. Dadurch erwischten wir einen echten Lauf und wurden am Ende der Saison völlig überraschend Vizemeister.“
Der neue, weitaus größere und weitläufigere Sportplatz übte auf viele Gastmannschaften ebenfalls einen hohen Respekt-Faktor aus. „Den späteren Meister Germania Mudersbach haben wir am 2. Dezember 1956 sogar mit 6:1 überrannt, haben das Rückspiel in Mudersbach aber fast ebenso deutlich mit 1:5 verloren“, beweist Nogaitzig ein glänzendes Gedächtnis. Nach der überraschenden Vizemeisterschaft wechselte „Motor“ Otto Schmitt aus Gernsdorf zu den Siegener Sportfreunden, außerdem hatte man viel Pech mit Krankheiten und Verletzungen. „Phasenweise hatten wir unsere liebe Mühe und Not, genau elf Mann auf den Platz zu bringen“, so Werner Nogaitzig. Die fast logische Folge war der Abstieg im Jahre 1958. Auch der „liebe Nachbar“ aus Rudersdorf, der 1957, also nur ein Jahr später als die Gernsdorfer, in die Bezirksklasse aufgestiegen war, nahm diesmal die Punkte mit.
An eine Begegnung erinnert sich Werner Nogaitzig noch besonders gut: „Der SV Netphen kam zu uns und benötigte noch einen Punkt, um in die Landesliga aufzusteigen. Das Spiel verfolgten fast 600 Zuschauer, Gernsdorf zählte damals ja noch zum Amt Netphen, und somit war es ein richtiges Lokalduell. Es endete 1:1 – dadurch stiegen die Netphener auf und wir ab. Gespielt wurde zunächst noch auf schwarzer Schlacke, in den 60er-Jahren gab es dann erstmals rote Asche als Untergrund – und im Jahre 2000 dann den ersten Kunstrasen“, berichtet Werner Nogaitzig, der schließt: „Die Gernsdorfer Fußballplätze, sowohl der Henneberg als auch sein kleiner, schmaler Vorgänger, haben viele interessante und denkwürdige Spiele gesehen. Es wurde höchste Zeit, dass nun ein neuer Kunstrasen entsteht, denn unsere Jugendarbeit mit Bezirksliga-Mannschaften in allen Jahrgängen von der Abis zur D-Jugend ist bemerkenswert gut. Diesen Kindern und Jugendlichen können wir nun noch bessere Rahmenbedingungen bieten.“
Auf seiner Reise in die Vergangenheit, um die ihn die SZ bat, musste sich der 77-Jährige übrigens ganz schön weit „zurückbeamen“: „Ich bin jetzt tatsächlich zum ersten Mal seit 1956 wieder auf diesem Gelände, denn bei meinen Spaziergängen durch die Gernsdorfer Wälder nehme ich sonst immer die Abzweigung vorher.“ Ganz knapp vorbei an der „Ausfahrt alter Sportplatz“ mit all seinen schö- nen Erinnerungen, sozusagen …
(Quelle: Siegener Zeitung, Frank Kruppa)